Krahl-Briefe > Nationalbewusstsein

Das Problem des Nationalbewußtseins

Ein Schülerzeitungsartikel von Hans-Jürgen Krahl aus dem Jahr 1961

Editorische Vorbemerkung der Redaktion: Hans-Jürgen Krahl war als Schüler am Gymnasium in Alfeld in der Redaktion der Schülerzeitung aktiv. Der folgende Artikel erschien in der Zeitung "Das Sprachrohr" 9. Jahrgang, Heft 1 im März des Jahres 1961. Im Jahr zuvor, im 8. Jahrgang, Ausgabe 1, erschien von Krahl ein weiterer Text mit dem Titel "Gedanken zur deutschen Einheit", ob es weitere Ausgaben des Jahres 1960 weitere Texte von Krahl gab, ist uns derzeit nicht bekannt. In der Ausgabe 2/3 des 9. Jahrgangs (Dezember 1961) neben einer Ansprache von Krahl als damaligen Schülersprecher auch noch der Text "Die schmale Wandergestalt des Gefühls" über Celan und Rilke inklusive Gedichte. In zwei weiteren Ausgaben des Jahres 1962 erschienen dann noch einmal zwei Gedichte des damaligen Abiturienten Hans-Jürgen Krahl ("Arche XX" und "Spaziergang"). Der Redaktion der Krahl-Briefe liegt bislang nur der hier nach 50 Jahren erstmals wiederveröffentlichte Text aus der frühen Zeit Krahls vor, in der dieser nach Aussagen eines Mitschülers Anhänger Adenauers war. Vermutlich in seiner Göttinger Zeit im Jahr 1965 trat Krahl dann dem SDS bei.
 

"Volk ist, Nation wird." So charakterisierte der Geschichtswissenschaftler Paul Joachimsen den Unterschied zwischen Volk und Nation und meint damit, daß das "Volk", das organisch und unbewußt gewachsene ist, das sich im Laufe der Geschichte nicht Verändernde. Nation hingegen ist das Gewordene und bewußt Gebildete. Man kann also sagen: Ein Volk wird Nation, wenn es sich seiner selbst bewußt wird. Diese Bewußtwerdung findet Ihren Ausdruck darin, daß das Volk in der Erkenntnis seiner Eigenart diese bewußt pflegt, weiterentwickelt. Es wird sich seiner Kultur bewußt und unternimmt damit den wichtigen Schritt zur Kulturnation. Wir unterscheiden Kulturnation und Willensnation, wobei wir unter Willensnation die Willensgemeinschaft verstehen, die nach dem gemeinsamen Volksstaat, dem Nationalstaat strebt. Wir sehen also, daß der Wille die Grundvoraussetzung für Sein und Werden des Staates ist. Dieser Wille findet seinen Ausdruck im Nationalgefühl eines Volkes, und so ist er ein Wille aus dem Gefühl. Auch der Wille aus der Vernunft, aus der sich ergebenen Notwendigkeit vermag es, einen Staat aufzubauen. Kulturnation und der durch die Willensgemeinschaft herbeigeführte Nationalstaat entsprechen durchaus nicht immer einander, und es taucht das Problem vom "Verhältnis von Volk und Staat" auf. Der deutsche Staat in den Grenzen von 1937 z.B. entspräche durchaus nicht der Verbreitung unseres Volkes, unseres Volkstums, unserer Kulturnation, wäre doch z.B. Österreich, das ja unzweifelhaft zur deutschen Kulturnation gehört, ausgeschlossen.

Mir schien, daß eine Definition der Begriffe Volk und Nation angebracht war, und ich möchte auch klären, was ich unter Begriffen wie Nationalgefühl und Nationalismus verstehe. Begriffe, über die ja eine bemerkenswerte Unklarheit besteht. Von vornherein muß Klarheit darüber herrschen, daß Nationalgefühl und Nationalismus durchaus nicht gleichzusetzen sind. Vielmehr ist Nationalgefühl jenes echte Nationalbewußtsein, daß seinen Ausdruck findet in dem schönen Wort Gottfried Kellers: "Achte jedermanns Vaterland, doch das eigene liebe!" Nationalgefühl fordert das Bekenntnis zur Nation ("Zu ihr gehört, wer sich zu ihr bekennt".) Nationalismus aber ist in jedem Fall ein übersteigertes Nationalgefühl, das ungesund und zu verurteilen ist. Es wird durchaus nicht durch die Gesinnung, die das Wort "Right or Wrong, My Country" ausdrückt, begrenzt. Diese Gesinnung ist nur eine Stufe des Nationalismus, freilich seine schlimmste Äußerung.

Unser modernes Nationalgefühl ist zur Zeit der Freiheitskriege gegen Napoleon entstanden, es ist problematisch geworden mit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Wir stehen also heute vor der Frage seiner Erneuerung, d.h. wir müssen dieses Gedankengut neu füllen und dem, was etwa der Bewahrung wert ist, seinen Platz einräumen. Wir müssen uns von vornherein darüber klar sein, daß eine Wiederholung jenes Nationalgefühls ausgeschlossen ist; denn es ist Geschichte geworden, die sich in ihrer Art nicht wiederholen läßt. Auch jene, die von "unvergänglichen Werten" sprechen, müssen anerkennen, daß der 2. Weltkrieg und die vorhergegangene Zeit des Nationalsozialismus einen Schlußstrich gezogen haben. Das Nationalgefühl ist nichts durch die Geschichte Gleichbleibendes, sondern etwas Werdendes, sich ewig Änderndes, das in der Geschichte steht, unlösbar an sie gebunden ist, mit ihr geht.

Das Nationalbewußtsein, das zu Beginn des 19, Jahrhunderts in Europa und fast der ganzen übrigen zivilisierten Welt entstand, zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß die Völker mit Macht die Wendung zur Willensnation machten. Seit dieser Zeit gehört es unbedingt zum Wesen der Nation, neben der Kulturnation auch Willensnation zu sein. Es hat durchaus Völker gegeben, die nur Kulturnation waren und nicht das Bestreben hatten, sich in einem gemeinsamen Staat zu organisieren. Paul Joachimsen zeigt das in seiner "Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins" deutlich auf und meint, daß es lange Zeit mit Deutschland so ausgesehen habe. Dieses deutsche Schicksal der Zerrissenheit - Teilweise ein Erbe des übernationalen Gedanken der Antike - ist uns hinlänglich bekannt, und wir wissen, daß andere Völker schon längst Nationalstaaten, wenn auch nicht im modernen Sinne, hatten, als Deutschlands politische Karte noch ein kunterbuntes Bild darbot. Nun aber im 19. Jahrhundert strebt Deutschland mit aller Kraft den Nationalstaat an. Wir kennen die geschichtliche Entwicklung und wissen, daß der Revolution von 1848 die Einigung nicht gelingen sollte, wie leidenschaftlich man auch in der Paulskirche darum rang. Viele Gründe erklären das Scheitern dieses Einigungsversuches. Es lag aber vor allen Dingen daran, daß man an den politischen Realitäten und Gesetzen vorbeisah. Durchsetzen kann sich nur, wer neben dem nötigen Willen auch die notwendige Macht besitzt, und diese sich anzueignen, haben die Männer von 1848 versäumt. Idealismus allein vermag sich nicht durchzusetzen. Ein anderer Grund liegt darin, daß die Revolution von 1848 wohl herausragende Persönlichkeiten, aber nicht das Genie hatte. Erst dem großen staatsmännischen Genie Bismarck sollte die lang ersehnte Einigung Deutschlands (Kleindeutsche Lösung) gelingen, freilich aus mehr oder weniger anderen Beweggründen. Man könnte hier eher von einem Willen aus der Vernunft, als von einem Willen aus dem Grfühl sprechen, obwohl auch Bismarck, der zunächst mehr preußisch als deutsch dachte, ein Nationalgefühl nicht gänzlich leugnen konnte. Der Staat Bismarcks sollte nicht von allzu langer Dauer sein. Die politische Unfähigkeit seiner Nachfolger und Wilhelms II. führten zu seinem Zusammenbruch. Gänzlich untergegangen ist er mit dem Ende des 2. Weltkrieges und der Tragödie der deutschen Spaltung.

Der deutsche Nationalstaat war und ist eines der schwierigsten Probleme unserer Geschichte. Es scheint, als wäre die Zerrissenheit unser Schicksal. Das mag Schiller auch veranlaßt haben zu sagen: "Zur Nation Euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens: Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus!" Aus dem 19. Jahrhundert sind uns die schönsten Zeugnisse deutschen Nationalbewußtseins überliefert, aber auch Dokumente des Nationalismus. Wir denken an Kleists Drama "Hermannsschlacht", Ausdruck der völkischen Bewegung. Wir denken an den Dichter Ernst Moritz Arndt, der leidenschaftlich den deutschen Nationalstaat forderte. "Dieser Abkömmling von Leibeigenen aus dem schwedisch regierten Rügen wußte die innere Not der Deutschen in einer volkstümlich anheimelnden und markigen, das Innerste anpackenden Art zu schildern" (Veit Valentin). Arndt hatte etwas von der markigen, geraden Art Martin Luthers. Da war der Turnvater Jahn, kein großer Geist, typisch "teutsch", der mit seiner Forderung nach dem Turnen eine nationale Bewegung schuf. Johann Gottlieb Fichtes "Reden an die deutsche Nation" waren ein Aufruf, wieder zum Nationalstolz zu finden. Der Historiker Veit Valentin sagt über Fichte, der ja entscheidend dazu beitrug, die geistige (philosophische) Grundlage für unser Nationalbewußtsein zu liefern: "Deutschland war für ihn die höchste, stärkste Offenbarung des Menschtums. Fichtes letztes Ziel war der vollkommene Staat [...], vom wiedererweckten Deutschtum erwartete er die Verwirklichung".

Aber schon damals waren die ersten Anzeichen einer Überspitzung des Nationalgefühls - des Nationalismus - sichtbar. Dieser Nationalismus hat seine Wurzel in einer "religiösen Grundlage". Die erste Erscheinung möchte ich einmal die Heiligsprechung der Nation nennen. "Dieses Vaterland und diese Freiheit sind das Allerheiligste auf Erden" sagt Ernst Moritz Arndt 1813. Man erklärte die Nation zu einem heiligen Gut. Volk, Vaterland, Nation sind aber keine heiligen Güter. Es ist eine ungesunde Überbewertung, sie zu den höchsten Werten zu erklären, was sich im Zusammenleben der Völker sehr schlimm auswirken kann: grenzt man sich doch zutiefst von den anderen Völkern ab und schafft sich einen Götzen in der Nation, der über den Menschen völlig verfügen darf.

Eine andere zu verurteilende Stufe des Nationalismus ist das Sendungsbewußtsein, das aus dem übersteigerten Nationalbewußtsein enstand. Sendungsbewußtsein an sich ist durchaus nicht verurteilenswert, solange es sich in den gegebenen Grenzen hält. Wir können schon bei Herder beginnen, der das deutsche Volk für das Volk hält, dem die Zukunft gehört. Diese Zukunft weist aber schon über das Nationale hinaus, denn Herder ist auch Weltbürger, sein Ziel ist die weltweite Humanität. Er glaubt, daß das deutsche Volk für sie berufen sei. Die gleiche Auffassung vertritt Schiller. Er glaubt nicht an das Zustandekommen der deutschen Nation und vertritt auch die Auffassung, daß dem deutschen Volk die Zukunft jenseits des Nationalen gehöre, wenn er sagt: "Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist der Tag der Ernte der ganzen Zeit." Fichte glaubt, daß das deutsche Volk das Urvolk sei, und hielt es für berufen, den vollkommenen Staat zu bilden. Wir bemerken eine ansteigende Linie in diesem Erwählungsglauben, die sich vom sittlich vertretbaren bis zum sittlich zu Verurteilenden zieht. Bei Arndt, wenn nicht schon bei Fichte, setzt die Linie des sittlich zu verurteilenden Sendungsbewußtseins ein, wenn Arndt den 'deutschen Gott' anruft, das deutsche Volk als "Träger und Unterpfand irdischer Ewigkeit" ansieht. Ihren Höhepunkt erreicht diese nationale Hybris mit dem Ausspruch Emmanuel Geibels: "[...] und mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen."

Die Romantik, die im christlich germanischen und mittelalterlichen Boden wurzelt, verklärte das deutsche Nationalbewußtsein und hat auch dazu beigetragen, es zur "Religion" werden zu lassen. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 ging eine geistige Umwälzung vor sich. Die Zeit eines unserer größten Philosophen neben Kant, mit Kant das philosophische Genie, ging ihrem Ende zu: die Zeit Hegels. Seine 'letzte große Synthesis' war nicht verwirklicht worden, die Weltvernunft hatte versagt. Die Zeit Schopenhauers brach an. Nicht mehr der Weltgeist und die Weltvernunft triumphierten, sondern der blinde Wille. Der Tag der Romantik, der Geschichte neigte sich, und die Stunde der Biologie bracht an. Mit ihr trat auch die biologische Überspitzung des Nationalismus auf: Der Rassegedanke! Gobineau und Darwin legten die Grundsteine. Wir wissen, welch fürchterliche, menschheitsvernichtende Folgen der Rassenwahn mit sich gebracht hat, wenn wir an die Zeit des "Dritten Reiches" denken. Die Zeit des Nationalsozialismus war der Höhepunkt nationaler Hybris, als gutes Gedankengut so schrecklich mißbraucht wurde, als man das deutsche Volk den schrecklichsten Nationalismus lehrte, den Völkerhaß.

Die Erscheinung des Nationalismus, Überbewertung und Mißbrauch des Nationalgefühls, übersteigerter Auserwähltheitsgedanke und Mißachtung und Haß anderen Völkern gegenüber finden sich natürlich auch in ähnlicher Entwicklung bei anderen Völkern. Es war Deutschlands Unglück, daß der Nationalsolzialismus sich seiner bemächtigen konnte in einer Zeit, in der schon die ersten Gedanken einer Völkerverständigung auftauchten, da man davon abging, in der Nation ein heiliges Gut zu sehen. Heute dürfen wir auf keinen Fall mehr in jene Deutschtümelei verfallen, die uns andere Völker hassen lehrt.

Wie aber sieht es heute eigentlich aus? In dem Maße, in dem der nationale Gedanke zur Zeit des Nationalsozialismus übersteigert und mißbraucht wurde, wird der heute unterbewertet und voller Geringschätzung betrachtet. Das eine Extrem ist genauso schädlich wie das andere. Wir sollten heute weniger von dem Mißbrauch des nationalen Gedankens in seiner Übersteigerung sprechen, als vielmehr von seinem Mißbrauch in seiner Geringschätzung. Das eine ist Geschichte geworden, aber das andere ein nicht bewältigtes Problem der Gegenwart. Reinhold Schneider konnte sagen: "Das Wort Nation ist für mich jeden Sinnes bar, eine deutsche Fahne sagt mir nichts." Einerseits will er damit auf den Mißbrauch hinweisen, der ihn diese Begriffe hat leer werden lassen, andererseits will er aber auch seine Mißachtung vor diesen Begriffen bekunden. Gerade unter den Gebildeten, unter der intellektuellen Jugend findet man heute diese Haltung. Es ist beinahe zu einem negativen Ideal geworden, mit Geringschätzung auf die Worte Nation, Volk, Vaterland zu schauen. In mancher Hinsicht erscheint diese Haltung als angenommen, das Schlimme ist nur, daß an die Stelle der alten Begriffe keine neuen getreten sind, daß man keinen Versuch gemacht hat, unser Nationalgefühl zu erneuern. Manchmal ist an die Stelle des Nationalgefühls ein ziemlich verwaschener Europagedanke getreten, der aber nicht als Ideal betrachtet wird, nicht als leidenschaftliche Sehnsucht, für die man sich einsetzt.

Wenn wir aber unser Nationalgefühl aufgeben, dann hören wir auch auf, Willensnation zu sein. Aber gerade in Anbetracht unserer Teilung ist eine Erneuerung des Nationalgefühls so notwendig. Wir haben erkannt, daß der Wille der Träger des Staates ist. Wie aber wollen wir die Teilung Deutschlands überwinden, wenn uns der echte Wille aus dem Nationalgefühl verloren geht? Das Nationalgefühl ist eine lebenswichtige Notwendigkeit für unser Dasein als Volk geworden.

Das Nationalgefühl ist auch durchaus kein Hindernis auf dem Wege zur Einheit Europas. Die Grundvoraussetzung für einen beständigen Staat Europa ist natürlich die Einheit Deutschlands. Wenn wir echtes Nationalgefühl zeigen, also aus der Liebe zum eigenen Vaterland wissen, was dem anderen sein Vaterland wert ist, dann kann es dem Europa-Gedanken nur förderlich sein. Das Zeitalter der europäischen Nationalstaaten ist längst vorüber. Wir dürfen das Weltgeschehen nicht mehr aus der Froschperspektive der Nationalstaaten betrachten. Europa ist nicht mehr die bestimmende Macht und nicht mehr Mittelpunkt politischen Geschehens. Wir müssen heute erkennen, daß das Abendland, daß Europa unsere Kulturnation ist, wir können nicht mehr nach nationalen Eigenarten urteilen, sondern müssen die große abendländische Einheit sehen. Wir müssen dahin kommen, die Kulturnation und Willensnation Europa zu werden. Dieser Prozeß braucht natürlich seine Zeit; wir brauchen deshalb nicht natürliches Nationalgefühl - das zudem noch notwendig ist - zu unterdrücken. Die Vernunft und die Notwendigkeit fordern ein einiges Europa. Wir können einen Staat Europa aus dem "Willen aus der Vernunft" gründen, was natürlich ein großes Maß an politischer Reife erfordert. Im Laufe der Zeit wird sich dann ein europäisches Nationalgefühl einstellen, und wir werden Europa als unser Vaterland ansehen können. Gustav Stresemann, der überzeugter Monarchist und national denkender Staatsmann war, hat das Beispiel gegeben, wie man aus dem Nationalgefühl heraus ein einiges Europa fordern kann. Ein einiges Europa nur kann unsere politische Existenz sichern.

Das Nationalgefühl hat seine Grenzen, wie wir gesehen haben. Es ist aber unnatürlich, die geschichtliche Wirklichkeit der Nation zu leugnen. Ihre Empfindungen sind natürlich, sie nicht zu haben wäre primitiv. Joachim Leuschner hat einmal gesagt: "Nationalbewußtsein meint heute: Nationales Gedächtnis und nationales Gewissen." Wir zeigen nationale Würde, wenn wir uns zur Geschichte unseres Volkes bekennen, nicht nur zu seinen großen Leistungen und Sternstunden, sondern auch zu seinen dunklen Tagen und Taten. Wir sollen uns nicht schuldig bekennen, aber müssen uns zu der Schuld bekennen, die im Namen des deutschen Volkes in jüngster Vergangenheit begangen wurde; denn "Geschichte ist" wie Hermann Heimpel sagt, "ein Produkt aus Schuld und Leiden, Willen und Tat."

Nationales Gewissen meint auch, daß wir nicht nur nicht aufhören, Willensnation zu sein, sondern auch für die Erhaltung und Erneuerung der abendländischen Kultur sorgen. Oswald Spengler verkündet im "Untergang des Abendlandes" den nahen Tod unserer Kultur. Nach Spengler befindet sich der faustische (abendländische) Kulturkreis in der Endphase. Wie dem auch sei, wenn wir uns der Anzeichen einer Krise bewußt sind, so ist es unsere Pflicht, alles zu tun, um sie zu überwinden. Wenn wir uns unserer Kultur bewußt sind - Kulturnation sind - so müssen wir auch die geistigen Herausforderungen annehmen. Aus der Anstrengung werden die Schaffenskräfte geweckt, nur das garantiert den Fortbestand unserer Kultur, die unser geistiges Dasein bestimmt hat.
Hans-Jürgen Krahl (Klasse 11s)

Quelle: Das Sprachrohr, 9. Jahrgang, Heft 1 (Archiv Harald Schulze)