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Die Erscheinung der praktischen Vernunft in der Erziehung

Fragment von Hans-Jürgen-Krahl

nach der Handschrift (von Digger)

Editorische Vorbemerkung der Redaktion: Folgender Text erschien am 13. Februar 2020, dem 50. Todestag Krahls, in der Frankfurter Rundschau. Zudem veröffentlichte die Zeitung eine kurze Einleitung in Leben und Werk Krahls, die Carsten Prien von unserem Institut verfasst hat. Diesen Text finden Sie hier.


Erziehung im emphatischen Sinn der Aufklärung ist die autonome Selbstaufklärung des notwendigen Fortschritts der Menschengattung auf dem Wege zum besseren Zustande „einer vollkommenen Gesellschaft“. Sie ist die reale Erscheinungsweise der praktischen Vernunft unter den widersprüchlichen Bedingungen der endlichen Erfahrungswelt in Staat, Gesellschaft und Familie. Doch wenn Kant auf geschichts- und moralphilosophischer Ebene über den Antagonismus des Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft feststellt, daß „bei dem jetztigen Zustande der Menschen... das Glück der Staaten mit dem Elende der Menschen wächst“, was materialistisch übersetzt auf die Usurpation der materiellen Produktionsbedingungen menschlicher Entwicklung durch die Klasse der Bourgeoisie mittels ihrer ökonomischen Gewalt und staatlicher Machtinstrumente deutet, so kann für Marx dieses Doppelantlitz eines Fortschritts, der Engels zufolge jenem Ungeheuer gleicht, das aus den Schädeln Erschlagener Nektar trinkt, nun durch eine umwälzende Praxis, die revolutionäre Selbstbefreiung des bei wachsendem Reichtum verelendenden Proletariats aufgelöst werden. Indem Marx das emanzipatorische Erziehungsideal der bürgerlichen Gesellschaft durch die Frage: „Wer erzieht die Erzieher“ in Frage stellt, weist er ein metaphysisches Subjekt des Fortschritts, die geheime Absicht der Natur oder deren Personifikation im Hegelschen Weltgeist von sich und erhebt Elend und Leiden, das Bewußtsein von Entfremdung und Verdinglichung einer ausgebeuteten Klasse zum emanzipatorischen Faktor einer durch materielle Gegengewalt notwendig gebrochenen, unreinen Autonomie der Unterdrückten. Der Fortschritt ist nicht realisierbar durch eine gattungsgeschichtliche Tradition von in die Generationsfolge sich umsetzender Erziehung von Individuen – wie es die bürgerliche Pädagogik am Begriff der privatautonomen Person, des selbstbewußten Bourgeois entwarf, der es als Citoyen auf Grund seiner ökonomischen Verfügungsgewalt über verdingte Lohnarbeiter ablehnt sich zum bloßen Instrument einer absoluten zumal hochzivilisierten Staatsgewalt machen zu lassen. Eine bessere Erziehung der Individuen wie der Gattung kann nur durch eine radikale Verbesserung der Umstände, die spontane Gegengewalt des organisierten Proletariats erfolgen, eine Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der im Begriff der abstrakten Arbeit bezeichneten Arbeitsteilung isoliert und unabhängig voneinander privat arbeitender Individuen. Der Widerspruch zwischen einer unter den unzulänglichen und augenscheinlich elenden und kläglichen empirischen Bedingungen der endlichen Erscheinungswelt von gesellschaftlichen Individuen, deren Handlungen unfrei sind insofern sie von der Notwendigkeit der Kausalkette bestimmt werden, und dem kategorischen Imperativ mit seiner erzieherischen Anweisung auf absolute Moralität, empirisch nach den Erfordernissen des intelligiblen Charakters mit dem Ziel einer freien Menschheit sich zu verhalten, läßt sich nur lösen durch die innerhistorische Aufhebung des absoluten Sittengesetzes in die hypothetische Zweckmittelanweisung. Die Marxsche Theorie der Revolution – wie sich aus der Kritik der gesellschaftlichen Umstände und bürgerlichen Pädagogik ergibt – versucht dies zu leisten, mit endlichen Mitteln das innergeschichtliche Ziel eines freien Zustandes von assoziierten Individuen zu entwerfen, die ihre Produktionsbedingungen gemeinschaftlich kontrollieren und in der Ausbildung einer allseitigen Individualität sich zur Menschheit zusammenschließen.

Die Aufhebung der Pädagogik in revolutionäre Theorie – Erziehung zur Mündigkeit wie es die Aufklärung fordert, kann für eine revolutionäre Theorie nur heißen, der unterdrückten Klasse die intellektuellen Mittel zur materiellen Selbstbefreiung zu vermitteln. Die Erziehung zur individuellen Selbsteinschränkung, der Freiheit im Bewußtsein der Übereinstimmung mit der geheimen Vernunftsabsicht der Natur als einer gattungsgeschichtlichen Pflicht hat sich nunmehr in die Erziehung zur Revolution umgesetzt, das heißt die Vermittlung eines Klassenbewußtseins (für Individuen) wie die Anweisung zur materiellen Mittelwahl, die überhaupt erst eine revolutionäre Gegengewalt konstituieren kann.

Kants Einteilung in physische und praktische Pädagogik ist revolutionär geworden, wenn Marx neben der geistigen Bildung im emphatischen Sinn einer reflexiv sich selbst bewußten Erziehung, eine körperliche Ausbildung fordert, die Vermittlung einer instrumentellen Vernunft durch polytechnische Erziehung.

Quelle: Digger 4
Transkription: Redaktion Krahl-Briefe