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Organisationsreferat

Gehalten auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 von Hans-Jürgen Krahl und Rudi Dutschke, Mitschrift des Tonbands

Die beiden zentralen politischen Ereignisse, an denen sich innerhalb des Verbandes seit der letzten Delegiertenkonferenz dessen politische Aktivität dichotomisch polarisierte, waren die Bildung der Großen Koalition und der politische Mord am 2. Juni in Berlin. Erstmalig seit der Abspaltung von der SPD stellte sich die Organisationsfrage als eine aktuell-politische innerhalb des verabndes. Je nachdem, welchem von diesen Ereignissen die politische Präponderanz zugesprochen wurde, kamm es zu tendenziellen Fraktionsbildungen, die sich durch die objektive Intention auszeichneten, die theoretischen Meinungen zu praktisch-politischen Richtungskämpfen zu konkretisieren.

Deren mögliche organisatorische Konsequenz wurde etwa vom Bundesvorstand aus der Erfahrung der Protestbewegungen, besonders Jugendlicher, ebenso wie inhaltlich leer als »formal lockere, inhaltlich einheitlich öffentlich arbeitende Organisation« beschrieben und in Berlin unter dem Titel der Gegenuniversität und Institutsassoziationen diskutiert, während anderen Gruppen die Bildung der Großen Koalition Anlaß zum wiederholten Versuch einer Sammlungsbewegung sozialistischer Gruppen und Grüppchen bot. Darüber hinaus wurde die Aktualität der Organisationsfrage nach dem 2. Juni für einige SDS-Gruppen um so akuter, als sie ihre organisatorische Unzulänglichkeit praktisch erfahren mußten. Der noch nie dagewesenen Verbreiterung des antiautoritären Protestes nach dem 2. Juni war die überkommene, noch an der SPD orientierte Organisationsstruktur des SDS nicht gewachsen. Die Spontaneität der Bewegung drohte die größten Gruppen organisatorisch zu paralysieren. Ihr politisches Verhalten erschien deshalb zum großen Teil reaktiv aufgezwungen, und Ansätze für politisch-initiative Führung waren weitgehend hilflos.

Die unmittelbar in der Gegenwart sichtbare Erscheinung des Fallens der Wachstumsraten in den wichtigsten Kennziffern ökonomischen Wachstums erklärt sich nicht oberflächlich aus bloßen Konjunkturschwankungen. Die fundamentalen Faktoren wirtschaftlichen Wachstums werden konstituiert durch die quantitative und qualitative Bestimmung der Arbeitskräftestruktur und des davon abhängigen Standes in der Entwicklung der Produktionsmittel. Das Zusammenwirken dieser beiden Elemente begründet die »objektive Trendlinie« (Janóssy) der wirtschaftlichen Entwicklung. (...)

Auf der Grundlage einer hervorragenden Arbeitskräftestruktur in der BRD (Zustrom von Facharbeitern aus ehemaligen deutschen Ostgebieten und später aus der DDR bis zum 13. August 1961) konnte sich so ein durch amerikanisches Kapital vermittelter langer Aufstieg bis zur vollen Ausnutzung des vorhandenen Niveaus der Arbeitskräftestruktur und der von ihr in Bewegung gesetzten Produktionsmaschinerie durchsetzen. Hinzu kam, daß in der BRD der Eindruck eines Wirtschaftswunders nur entstehen konnte, »weil nicht nur die Folgen des Krieges überwunden wurden, sondern auch der zwischen zwei Weltkriegen entstandene Rückstand aufgeholt werden konnte.«

1. Im Laufe der prosperierenden Rekonstruktionsperiode mit ihren hohen Wachstumsraten wurden dem »schwachen Staat« durch den Druck politischer und sonstiger Interessenverbände hohe Subventionen abgerungen, die die herrschende Oligarchie unter den damaligen Bedingungen durchaus verkraften konnte.

2. Am Ende der Rekonstruktion, das heißt der Periode des Einlaufens in die Trendlinie, erscheinen die Subventionen als zusätzliche, meist unproduktive Ausgaben, als für die Weiterentwicklung der Ökonomie gefährliche Totgewichte, als gesellschaftliche faux frais, »tote Kosten« der kapitalistischen Produktion.

3. Das Eigengewicht der Interessenverbände innerhalb des Systems der Interessendemokratie kann in der noch pluralistischen Gesellschaft nicht wieder ohne weiteres abgebaut werden, muß aber am Ende der Rekonstruktion in den Griff bekommen werden. So tauchen die Begriffe der Rationalisierung, der Formierung und letztlich der »Konzertierten Aktion« auf. Die verschiedenen »Reformversuche« des Systems in der jetzigen Periode sind als Versuche des Kapitals zu begreifen, sich in die veränderten Bedingungen herrschafts- und profitmäßig anzupassen.

4. Die auffälligste Erscheinung der gegenwärtigen ökonomischen Formationsperiode ist die Zunahme der staatlichen Eingriffe in den wirklichen Produktionsprozeß als Einheit von Produktion und Zirkulation. Dieser Gesamtkomplex der staatlich-gesellschaftlichen Wirtschaftsregulierung bildet ein System des Integralen Etatismus, der im Unterschied zum Staatskapitalismus auf der Grundlage der Beibehaltung der privaten Verfügung über die Produktionsmittel die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz ausschaltet und den ehemals naturwüchsigen Ausgleich der Profitrate durch eine staatlich-gesellschaftlich orientierte Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse herstellt.

In dem Maße, in dem durch eine Symbiose staatlicher und industrieller Bürokratien der Staat zum gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten wird, schließt sich die Gesellschaft zur staatlichen Gesamtkaserne zusammen, expandiert die betriebliche Arbeitsteilung tendenziell zu einer gesamtgesellschaftlichen. Der Integrale Etatismus ist die Vollendung des Monopolkapitalismus.

Außerökonomische Zwangsgewalt gewinnt im Integralen Etatismus unmittelbar ökonomische Potenz. Damit spielt sie für die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaftsformation eine Rolle, wie seit den Tagen der ursprünglichen Akkumulation nicht mehr. Bewirkt sie in jener Phase den blutigen Expropriationsprozeß der Volksmassen, der überhaupt erst die Trennung von Lohnarbeit und Kapital herbeiführte, wird sie Marx zufolge im etablierten Konkurrenzkapitalismus kaum noch angewandt. Denn die objektive Selbstbewegung des Begriffs der Warenform, ihres Wertes, konstituiert sich in dem Maße zu den Naturgesetzen der kapitalistischen Entwicklung, als die ökonomische Gewalt im Bewußtsein der unmittelbaren Produzenten verinnerlicht wird. Die Verinnerlichung ökonomischer Gewalt erlaubt eine tendenzielle Liberalisierung staatlicher und politischer, moralischer und rechtlicher Herrschaft. Der naturwüchsig produzierte Krisenzusammenhang der kapitalistischen Entwicklung problematisiert in der Aktualität der Krise die Verinnerlichung ökonomischer Gewalt, die in der Deutung der materialistischen Theorie zwei Lösungen kennt. Die Krise ermöglicht einerseits die Möglichkeit zu proletarischem Klassenbewußtsein und dessen Organisierung zur materiellen Gegengewalt i der autonomen Aktion der sich selbst befreienden Arbeiterklasse. Andererseits nötigt sie objektiv die Bourgeoisie im Interesse von deren ökonomischer Verfügungsgewalt zum Rückgriff auf die physisch terroristische Zwangsgewalt des Staates.

Der Ausweg des Kapitalismus aus der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 beruhte auf der Fixierung an die terroristische Machtstruktur des faschistischen Staates. Nach 1945 wurde diese außerökonomische Zwangsgewalt keineswegs abgebaut, sondern in totalitärem Ausmaß psychisch umgesetzt.

Diese Verinnerlichung beinhaltet den Verzicht auf manifeste Unterdrückung nach innen und war konstitutiv für den Scheinliberalismus und Scheinparlamentarismus, allerdings um den Preis der antikommunistischen Projektion eines absoluten Außenfeindes.

Die aus einer veränderten internationalen Konstellation entstandene »Entspannungspolitik« der BRD half mit, besonders am Ende der Rekonstruktionsperiode, den Zersetzungsprozeß des militanten Antikummunismus zu forcieren. Die manipulativ verinnerlichte außerökonomische Zwangsgewalt konstituiert eine neue Qualität von Naturwüchsigkeit des kapitalistischen Systems. Allerdings wäre ein Eingriff in die Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung nur sinnvoll denkbar, wenn sie den objektiven Verwertungsprozeß des Kapitals strukturell veränderte. Ohne diese Annahme würde die Kritik des Systems der Manipulation bloße Kulturkritik bleiben und die Eindimensionalisierung aller Bereiche der Gesellschaft, nämlich die Einebnung der wissenschaftlichen Differenzen von Überbau und Basis, Staat und Gesellschaft, akzidentell bleiben. Sie erfährt erst ihre ökonomiekritische, materialistische Darstellung, wenn das Verhältnis von Wert und Tauschwert, Produktions- und Zirkuationssphäre selbst in die Eindimensionalisierung der Gesellschaft einbezogen wird. Die Frage war also: Wie paßt der Überbau, außerökonomische Gewalt von Staat, Recht etc. als ein institutionelles System von Manipulation in die Substanz der Warenproduktion, die abstrakte Arbei selbst ein? Abstrakte Arbeit, die Substanz des Wertes, bezeichnet das arbeitsteilige Produktionsverhältnis von isoliert privat arbeitenden Individuen. Auf Grund deren Isolation in der Produktion sind sie gezwungen, ihre Produkte auf dem Markt als Waren zu verkaufen, d. h. der gesellschaftliche Verkehr der Produzenten untereinander stellt sich nicht in der Produktion selbst her, sondern in der Zirkualtionssphäre. Mit der Entwicklung zum Monopolkapitalismus zeichnet sich die Tendenz einer fortschreitenden Liquidation der Zirkulationssphäre ab, wodurch die Möglichkeit einer Aufhebung abstrakter Arbeit bezeichnet wird. Dies deutet Marx mit der Analyse der Aktiengesellschaft an, wenn er diese als Gesellschaftskapital unmittelbar assoziierter Individuen bezeichnet. (Darauf wird man näher einzugehen haben: Ein sozusagen utopisches Verständnis von Aktiengesellschaft bei Marx, anhand dessen die Wurzel des fiktiven Kapitals darzulegen nötig ist. Anm. zur Veröffentlichung D. H.) Außerökonomische Zwangsgewalt, Staat und andere Überbauphänomene greifen derart in die warenzirkulation ein, daß die abstrakte Arbeit durch ein gigantisches institutionelles Manipulationssystem artifiziell reproduziert wird.

Ebenso greift sie in die Warenproduktion der Ware Arbeitskraft ein. Wenn der technische Fortschritt der Maschine zwar potentiell die Arbeit abschafft, aber faktisch die Arbeiter abschafft, und eine Situation eintritt, in der die Herrschenden die Massen ernähren müssen, wird die Arbeitskraft als Ware tendenziell ersetzt. Die Lohnabhängigen können sich nicht einmal mehr verdingen, die Arbeitslosen verfügen nicht einmal mehr über ihre Arbeitskraft als Ware. Daß am Ende der Rekonstruktion die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht mehr im Zusammenhang mit der Funktionsbestimmung der Reservearmee analysierbar ist, ist Indiz dafür. Diese Tendenz ist begreifbar nur im Rahmen der durch den technischen Fortschritt zur Autotion bewirkten Konstellationsveränderung im Verhältnis von toter und lebendiger Arbeit. Wie Karl Korsch und Herbert Marcuse mit Bezug auf Marx andeuteten, bewirkt diese Konstellationsveränderung, daß nicht mehr das Wertgesetz, die objektiv sich durchsetzende Arbeitszeit, den Wertmaßstab abgibt, sondern die Totalität des Maschinenwesens selber.

Diese Hypothesen lassen grundsätzliche Folgerungen für die Strategie revolutionärer Aktionen zu. Durch die globale Eindimensionalisierung aller ökonomischen und sozialen Differenzen ist die damals praktisch berechtigte und marxistisch richtige Anarchismuskritik, die des voluntaristischen Subjektivismus, daß Bakunin sich hier auf den revolutionären Willen allein verlasse und die ökonomische Notwendigkeit außer Acht lasse, heute überholt.

Wenn die Struktur des Integralen Etatismus durch all seine institutionellen Vermittlungen hindurch ein gigantisches System von Manipulation darstellt, so stellt dieses eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören. Die Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche ist damit geschichtlich unmöglich geworden. Sie erfassen die soziale Wirklichkeit nur noch die von ihnen verinnerlichten Schemata des Herrschaftsystems selbst. Die Möglichkeit zu qualitativer, politischer Erfahrung ist auf ein Minimum reduziert worden. Die revolutionären Bewußtseinsgruppen, die auf der Grundlage ihrer spezifischen Stellung im Institutionswesen eine Ebene von aufklärenden Gegensignalen durch sinnlich manifeste Aktion produzieren können, benutzen eine Methode politischen Kampfes, die sie von den traditionellen Formen politischer Auseinandersetzung prinzipiell unterscheiden.

Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenen Massen, denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstarkte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit werden kann. Die »Propaganda der Schüsse« (Ché) in der »Dritten Welt« muß durch die »Propaganda der Tat« in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.

Die Universität bildet seine Sicherheitszone, genauer gesagt, seine soziale Basis, in der er und von der er den Kampf gegen die Institutionen, den Kampf um den Mensagroschen und um die Macht im Staate organisiert.

Hat das alles etwas mit dem SDS zu tun? Wir wissen sehr genau, daß es viele Genossinnen und Genossen gibt, die nicht mehr bereit sind, abstrakten Sozialismus, der nichts mit der eigenen Lebenstätigkeit zu tun hat, als politische Haltung zu akzeptieren. Die persönlichen Voraussetzungen für eine andere organisatorische Gestalt der Zusammenarbeit in den SDS-Gruppen sind vorhanden. Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerille-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.

Die bisherige Struktur des SDS war orientiert am revisionistischen Modell der bürgerlichen Mitgliederparteien. Der Vorstand erfaßt bürokratisch die zahlenden Mitglieder unter sich, die ein bloß abstraktes Bekenntnis zu den Zielen ihrer Organisation ablegen müssen. Andererseits vermochte der SDS die perfekte Verwaltungsfunktion revisionistischer Mitgliederparteien nicht voll zu übernehmen, da er ein nur ein teilbürokratisierter Verband ist, ein organisatorischer Zwitter. Demgegenüber stellt sich heute das Problem der Organisation als Problem revolutionärer Existenz.